Intuition oder wissenschaftliche Fundierung?
Als Lehrender stellt man sich natürlich immer wieder die Frage, wie man die fachlichen Inhalte so vermitteln kann, dass sie von den Auszubildenden erfasst werden können. Dabei geht es zum einen um allgemeines Faktenwissen (Terminologien, Einteilungsschemata, Methoden etc.) und zum anderen um die Weitergabe langjähriger Erfahrungen während der klinischen Berufstätigkeit.
Wie in vielen anderen Bereichen ist auch in der Logopädie das aktuelle Credo, dass die Methoden und das Vorgehen wissenschaftlich fundiert sein sollten (Stichwort: evidence based practice). Erfahrungsgemäß gibt es jedoch noch andere Wirkfaktoren, die Einfluss auf den Kontakt zu den Patienten und den Therapieerfolg haben können. Diese entziehen sich der Möglichkeit einer eindeutigen Erfassung und Messbarkeit.
In dem Zusammenhang nutze ich die Semesterferien an der Logopädieschule im Kieler Schloss, um mich mit dem Thema „Intuition“ zu beschäftigen.
Den Begriff „Intuition“ kann man so beschreiben: Es ist etwas Wahrgenommenes oder Beobachtetes, das nicht in Worte gefasst werden kann und das zum Leitfaden des eigenen Handelns wird.
Der Duden spricht von „Intuition“, wenn es sich um „das unmittelbare, nicht diskursive, nicht auf Reflexion beruhende Erkennen, Erfassen eines Sachverhalts oder eines komplizierten Vorgangs oder um eine Eingebung, ein plötzliches ahnendes Erfassen“ handelt.
Bei der Intuition handelt es sich also um eine unbewusste Wahrnehmung, die auch unterschwellige, sublime Wahrnehmung oder implizites und stilles Wissen genannt wird; im Gegensatz zum expliziten Faktenwissen bei dem es um kausale Zusammenhänge geht.
Die Möglichkeit, sich intuitiv zu verhalten, speist sich aus dem Erfahrungswissen und wird v.a. von Experten in komplexen Situationen genutzt, was ihnen eine flexible Veränderung der Therapieinhalte ermöglicht. Somit ist das Vorgehen häufig nur eine Momentaufnahme oder wie Luhmann es ausdrückt:
„Man sollte also nicht einen Plan haben, den man durchführen will, sondern auf Gelegenheiten warten: wann ergibt sich ein Moment, der sofort wieder verschwindet, in dem man etwas sagen kann, was man niemals vorher und niemals hinterher mit der Überzeugungskraft, die sich aus diesem Moment ergibt, sagen kann.“
Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass die früher gemachten Erfahrungen, aus denen das intuitive Handeln resultiert, zu einer Art Scheuklappen werden, die verhindern, dass neue, variierende Aspekte der aktuellen Situation übersehen und vernachlässigt werden. Expertentum schützt also keineswegs vor Fehleinschätzungen.
Für die (Logopädie-) Ausbildung gibt es darüber hinaus bei dem Thema mehrere Problemstellungen und Herausforderungen:
– es besteht wie oben bereits angesprochen die berechtigte Forderung nach begründbarem therapeutischem, methodischenVorgehen, das wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und nachweislich wirksam ist
– zu Beginn der Logopädieausbildung und sicherlich auch noch in den ersten Jahren der Berufstätigkeit ist für die Schüler*innen/Berufs-anfänger*innen eine genaue, explizite Planung wichtig, um die eigene Tätigkeit zu reflektieren und um sich selber Sicherheit und Halt zu geben
– wie kann man die beiden Forderungen miteinander verbinden?
– wie kann man intuitive Fertigkeiten vermitteln und wie kann man sie bei den Auszubildenden fördern?
Die Aufgabe besteht darin, die im Titel erwähnten Pole nicht als sich gegenseitig ausschließende Pole zu begreifen, sondern als zwei Aspekte, die nur im sinnvollen, ausgewogenen Zusammenspiel einen Nutzen für die Therapie und damit für die Patient*innen haben.
An der Logopädieschule Kiel versuchen wir beide Aspekte insofern zu berücksichtigen, indem einerseits eine fundierte Planung erstellt wird, die eine solide Grundlage bildet, aber andererseits die Schüler ermuntert werden, sich zu trauen, flexibel vorzugehen und von der Planung abzuweichen, wenn es der Therapieverlauf erfordert.
ein richtiger mut-mach-artikel-
Lieber Norbert Frantzen,
es gehört alles zusammen. Nichts kommt ohne eigene Beteiligung einfach so daher. Das zu erkennen und mit der „Wissenschaft“ zu verbinden, finde ich jeden Tag schwierig, es fordert mich jeden Tag heraus.
Bald bin ich gesellschaftlich anerkannte „Seniorin“, 60 Jahre „alt“ im nächsten Jahr. Neugierig bin ich immer – so lange das nicht aufhört, bin ich geistig jung, engagiert, mittendrin auch emotional und intuitiv, sterbe erst, wenn diese Freude an Lernimpulsen aufhört.
Herzliche Grüße, Ingrid Carell