Kleine Fluchten oder „ja, wo segelt er denn hin…?“
Am 30.07.2020 gegen Mittag machte er sich plötzlich davon. Bisher war er immer ein verlässlicher Ankerpunkt gewesen, wenn mein Blick aus dem Bürofenster der Logopädieschule im Kieler Schloss über die Förde schweifte. Deswegen traute ich meinen Augen kaum, als er da so vor sich hin schwebte. Hatte er genug vom jahrelangen, festen verwurzelt sein, von der immergleichen Aussicht. Nachvollziehbar wäre es, da es ja eigentlich in keiner Weise seinem Naturell entspricht so fixiert zu sein. Der Drang nach Freiheit schien letztendlich gesiegt zu haben!
Als ich genauer hinschaute, bemerkte ich, dass er offensichtlich zwei Helfer gehabt hatte, um aus seiner Gefangenschaft zu entkommen. Und auch schweres Gerät war aufgefahren worden, um die Flucht zu ermöglichen. Weit ist er jedoch nicht gekommen, denn der Schwebezustand währte nur kurz, weil er sofort auf einem am Boden befindlichen Gestell direkt neben seinem alten Standort platziert wurde. Jetzt hatte er nicht mehr die bisherige fantastische Übersicht und wurde zu allem Überfluss auch noch mit einer Plane abgedeckt.
Die Rede ist vom Kunstwerk „Segler“ des Künstlers Karlheinz Goedtke. Dabei handelt es sich um eine 9 (!!) Tonnen schwere Bronzeskulptur, die seit 1962 (also seit fast 60 Jahren !!) auf einem Betonsockel über dem Ostseekai thront. Weil die brüchig gewordene Betonsäule saniert werden musste, machte der Segler mit Hilfe eines Krans diesen kleinen Ausflug, der auch nicht lange dauerte, da er am 26.8. schon wieder auf seinen Sockel zurück gekehrt ist. Man kann nur hoffen, dass er jetzt wieder mit frisch gesichertem Stand einmal mehr die Aus- und Übersicht genießt, die ihm seine exponierte Position ermöglicht.
Sich hin und wieder selber so eine kleine Flucht zu erlauben (und auch mal die Augen vor allem zu schließen, was auf einen einprasselt) – das erlaubt sich sicherlich jede/r und ist erfahrungsgemäß wohltuend und hilfreich. Aber genauso wichtig ist es, zu wissen wo man hingehört und wieder zu diesem Platz zurück kehren zu können. Im Gegensatz zu einer Bronzefigur haben wir Menschen die Möglichkeit (die Herausforderung?, die schwierige Aufgabe?, die Last? – das mag jeder anders empfinden) diesen Ort selber finden und bestimmen zu können.
Wir wünschen allen unseren Schüler*innen (aber im Moment v.a. denen, die sich gerade auf die Examensprüfungen im September vorbereiten), dass es ihnen immer wieder gelingt, eine kleine Auszeit zu nehmen und kurze Entspannungsmomente genießen zu können. Und hoffen, dass sie im Laufe der drei Jahre das Gefühl entwickelt haben, mit dem Beruf der Logopäd*in und der bevorstehenden Berufstätigkeit in einer Arbeitsstelle einen Platz gefunden zu haben, der ihnen entspricht und sie ausfüllt.
Gutes Gelingen!